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KAPITEL EINS
Der Mond versteckte sich hinter einer dunklen Wolkenwand. Erst vor wenigen Minuten hatte der Wind nachgelassen, dafür schüttete es inzwischen wie aus Kübeln. Die Straßen und Gehwege waren nass und rutschig vom herabgefallenen Laub. Nicks durchtränkte Kleidung klebte ihm unangenehm auf der Haut. Er wollte nur noch so schnell wie möglich in sein warmes Zimmer, heiß duschen und danach ins Bett. Morgen früh würde sein Wecker um sechs Uhr klingeln. Es stand eine wichtige Vorlesung auf dem Plan, die er auf keinen Fall verpassen wollte.
Gemeinsam mit seinen Freunden schlich er um das Studentenwohnheim zur Hintertür. Der Vordereingang war bereits abgeschlossen, wie immer unter der Woche kurz nach Mitternacht. Nur an den Wochenenden gab es Ausnahmen. Aus diesem Grund wollten sie über den Notausgang einsteigen und ungesehen am Wachmann vorbeischleichen.
In Cornwell herrschten strenge Regeln. Jeder noch so kleine Verstoß wurde vom Wachpersonal geahndet und schriftlich festgehalten. Im schlimmsten Fall sogar dem Direktor vorgelegt, der seine Studenten nur allzu gern maßregelte. Bisher hatte Nick sich nichts zuschulden kommen lassen und war noch nie nach der Sperrstunde unterwegs gewesen. Seine fünf Kommilitonen dagegen waren in dieser Hinsicht Profis. Sie kannten alle Schleichwege und Hintertüren.
»Seid leise«, flüsterte Percy und zog einen Schlüssel aus der Hosentasche. Triumphierend hielt er ihn im diffusen Licht der Außenbeleuchtung in die Höhe.
»Wo hast du den her?« Überrascht blickte Nick ihn an.
»Wärst du nicht so ein Stubenhocker, wüsstest du es. Der ist natürlich nachgemacht. Ich habe das Original geklaut, einen Abdruck gemacht und ihn zurückgebracht, bevor es dem Hausmeister aufgefallen ist. War eine Sache von wenigen Minuten.«
»Quatsch nicht, beeil dich lieber. Ich ersauf hier draußen gleich«, beschwerte sich Cole, der seine Jeansjacke fest um sich schlang.
»Ich tu wenigstens etwas für mein Studium«, raunte Nick und sah Percy zu, wie dieser die Tür aufschloss. Obwohl sein Gesicht im Schatten lag, konnte er sich sein schiefes Grinsen gut vorstellen.
»Sei nicht immer so ein Streber«, feixte Milo und klatschte sich mit Marvin ab, der zustimmend nickte.
»Seid nachsichtig mit unserem Maestro!« Cole legte Nick einen Arm über die Schulter und zog ihn zu sich heran. Zusammen huschten sie hinein, die anderen folgten. Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass die Luft rein war, kicherte Cole.
»Ich mache drei rote Kreuze im Kalender. Es ist eine Premiere. Nicolas Harper war heute mit seinen Kumpels Einen trinken und schleicht sich danach heimlich zurück aufs Zimmer.« Aus Spaß wuschelte er Nick durch die feuchten Haare. Cole Thompson war Nicks bester Freund am College und zugleich sein Zimmergenosse. Im Gegensatz zu ihm, nahm Cole es jedoch mit seinem Studium nicht allzu ernst.
»Lass das!«, beschwerte sich Nick und trat demonstrativ einen Schritt zur Seite. »Wir werden noch alle auffliegen, und wenn mein Vater davon erfährt …«
»Hör auf! Du hast für einen Abend genug Moralapostel gespielt«, stöhnte Lance. Er war schon den ganzen Tag schlecht gelaunt gewesen.
»Du musst echt lockerer werden«, bestätigte Percy und boxte ihm leicht in den Bauch.
»Genau, sei kein Spielverderber.« Cole lachte und die anderen fielen mit ein.
»Seid verdammt noch mal leise!«, zischte Nick. »Macht euch ruhig lustig über mich. Bis zu meinem Konzert habe ich nicht mehr allzu lange Zeit. Da kann ich nicht einfach nach Lust und Laune mit euch losziehen.«
»Behaupte nicht, es hätte dir keinen Spaß gemacht.« Marvin schüttelte fassungslos den Kopf.
Cole zog Nick verschwörerisch zur Seite. »Die Blondine mit dem roten Top ist voll auf dich abgefahren. Außerdem hatte sie eine bombastische Oberweite. Die hättest du echt ansprechen sollen.« Mit einer eindeutigen Geste formte er ihre Brüste nach.
Nick spürte, wie seine Wangen anfingen zu glühen. Natürlich hätte er das tun sollen, wenn er denn auf Mädchen stehen würde. Nur tat er das nun mal nicht und hätte somit nichts davon gehabt. Das dachte er jedes Mal, wenn sein Zimmergenosse mit diesem Thema anfing, aber er war zu feige sich zu outen.
»Oh Mist. Ich habe sie vergessen.« Panisch blieb Nick stehen und tastete vergeblich seine Jackeninnentasche ab.
»Was denn?«
»Meine Noten!«
»Vergiss die dämlichen Noten! Die liegen morgen früh immer noch im Musiksaal und warten auf dich.« Cole schnappte Nick am Arm, er jedoch entzog sich ihm.
»Das verstehst du nicht. Es ist mein Stück.« Nick drehte sich um und rief über seine Schulter hinweg: »Lasst die Tür angelehnt, ich bin gleich wieder zurück.«
»Ich warte auf dich, also beeil dich lieber«, sagte Cole, während sich die anderen verzogen.
Nick rannte in die Richtung, aus der er mit seinen Freunden gekommen war. Doch anstatt den Campus durch das Eingangstor zu verlassen, bog er hundert Meter davor nach links ab und hielt auf ein großes Gebäude zu. Das alte Bauwerk stammte aus der Gründerzeit des Colleges. Das Hauptgebäude war Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erbaut worden. In den letzten Jahrzehnten waren nach und nach weitere Nebengebäude hinzugekommen. Das Gelände beherbergte zudem vier Wohnheime und ein Observatorium.
Von Weitem sah Nick, dass in den Fenstern des vierstöckigen Backsteinhauses mit dem Glockenturm kein Licht brannte. Das war sein Glück. Wäre ein Professor oder der Direktor um diese Uhrzeit noch am Arbeiten, was hin und wieder der Fall war, hätte er nicht so einfach in das Gebäude hineinspazieren können. Er wäre vermutlich erwischt und zur Rede gestellt worden.
Direktor Louis Bennett und sein Vater waren Freunde. Schulfreunde. Sie gingen früher gemeinsam auf die Highschool und später nach Harvard, dort hatten sie Rechtswissenschaften studiert. Während sein Vater in die Politik gegangen war, hatte sich Louis Bennett als leitender Direktor in Cornwell etabliert. Das war Nicks Verhängnis. Er stand mehr als jeder andere Student auf dem Campus unter Beobachtung. Jeden Fehltritt, jeden Zwischenfall bekam sein Vater mitgeteilt, der sich postwendend bei ihm meldete und ihn rügte.
Sein Vater durfte nie erfahren, dass er es gewagt hatte, mit seinen Freunden in der Stadt etwas trinken zu gehen. Nick schwor sich, die nächste Einladung abzulehnen. Sein Musikstudium war ihm heilig, genauso seine Noten. Das anstehende Konzert lag ihm am Herzen. Er hatte es eigenhändig komponiert. Deshalb war es besonders wichtig, seine Noten umgehend zurückzubekommen, schließlich gab es nur diese eine Abschrift: seine handgeschriebene Partitur. Es war ihm immer noch schleierhaft, wieso er sie hatte liegen lassen. Wäre sie verschwunden, würde er sich das niemals verzeihen.
Außer Atem kam Nick vor der Eingangstür zum Stehen. Achtsam beobachtete er die nähere Umgebung, dann prüfte er, ob die Tür verriegelt war. Zu seiner Erleichterung ließ sie sich problemlos öffnen und er schlich hinein. Kein Geräusch war zu hören. Nick huschte weiter, bis zur Treppe, die in der Mitte des Schulgebäudes bis in den Glockenturm hinauf führte. In der dritten und letzten Etage angekommen, steuerte er auf den Musiksaal zu. Dort spielte er fast jeden Abend Klavier. Obwohl der große Raum in halbdunkle Schatten getaucht war, genügte ihm das Licht der brennenden Laternen vor dem Gebäude, um sich zurechtzufinden. Vorsichtig lief er zur Bühne. Seine Notenblätter lagen noch genauso auf dem Stuhl vor dem Klavier, wie er sie zurückgelassen hatte.
Nick fiel ein Stein vom Herzen. Eilig schnappte er sich die Partitur und wollte verschwinden, als er Schritte vernahm. Erschrocken duckte er sich hinter dem Flügel und zog den Hocker zu sich heran. Beides schützte ihn vor unliebsamen Blicken.
Er hörte ein leises Zischen und eine kleine Flamme leuchtete auf, die sofort wieder erlosch. Der Geruch nach Tabak stieg ihm in die Nase. Jemand hatte sich eine Zigarette angezündet und näherte sich.
Nicks Herz raste. Wer auch immer gekommen war, versperrte ihm den Weg zur Tür. Er konnte sich nicht verdrücken, ohne bemerkt zu werden. In Gedanken vor sich hin fluchend, war er zum Warten verdammt.
Momente später wurde nur wenige Meter von ihm entfernt die kleine Lampe neben der Bühne angeknipst.
»Wie oft habe ich dir gesagt, hier wird nicht geraucht?«
Überrascht die Stimme des Direktors zu vernehmen, kroch Nick weiter unter das Klavier und spähte vorsichtig darunter hervor. Den hochgewachsenen dunkelhaarigen Unbekannten in Lederjacke und Kapuzenshirt hatte er auf dem Campus allerdings noch nie gesehen.
Louis Bennett entriss dem jungen Mann gerade die Zigarette, warf sie zu Boden und trat sie mit dem Absatz aus.
»Reg dich nicht auf, das riecht später eh niemand«, kommentierte der Fremde und steckte seine Hände in die Hosentaschen seiner ausgewaschenen zerfransten Jeans.
»Halt die Klappe«, wurde er angeschnauzt. Sein Gegenüber verpasste ihm eine schallende Ohrfeige, bevor er überhaupt reagieren konnte. Wütend presste er die Lippen aufeinander und fixierte den Direktor mit vor Wut geballten Fäusten. Nick konnte sehen, dass es ihm einige Überwindung kostete, nicht zurückzuschlagen.
»So ist es schon besser, Kenny. Du weißt also noch, wie man sich benimmt«, säuselte Bennett.
Nick verzog angewidert das Gesicht. Er hatte den Freund seines Vaters noch nie ausstehen können. Ihn jetzt so zu erleben, war ungewohnt und passte nicht zu dem normalerweise nach außen souveränen Auftreten des Collegedirektors, der immer die besten Maßanzüge trug und dem die grauen Strähnen im braunen Haar der ohnehin strengen Miene harte Züge verliehen.
»Was willst du von mir?«, fragte der junge Mann, der offenbar Kenny hieß.
»Na was schon. Du hast dich drei Tage nicht blicken lassen. Dafür müsste ich dir eigentlich etwas von deinem Lohn abziehen.« Die Hand des Direktors streichelte zärtlich über die Wange, die er zuvor geohrfeigt hatte. Kennys Schultern spannten sich bei dieser Berührung sichtbar an.
»Sag schon! Wo warst du?«
»Ich bin zweiundzwanzig und dir keine Rechenschaft schuldig«, antwortete er schroff.
Nick glaubte, Kenny würde jeden Moment den Arm von Bennett wegschlagen, stattdessen ließ er zu, dass er ihn auch mit der anderen Hand streichelte und an sich heranzog.
»Du bist zwar volljährig, aber die Kohle habe immer noch ich. Du brauchst doch Geld, oder? Sonst hättest du mich nicht um ein Treffen gebeten.«
»Du hast mich hierher bestellt, nicht ich dich.« Kenny lächelte, aber das Lächeln erreichte nicht seine Augen. Es wirkte so falsch wie Bennetts Tonfall.
»Du weißt doch, wir beide profitieren von unseren Treffen.« Die Finger des Direktors wanderten unter Kennys Shirt.
Nick schluckte. Er wusste nicht, was er von dieser Szene halten sollte. Vor seinen Augen machte sich Bennett an den jungen Mann ran und es war offensichtlich, dass diese Intimität zwischen den beiden nicht zum ersten Mal stattfand. Unweigerlich spürte er einen Stich in der Magengegend.
Louis Bennett entblößte Kennys Oberkörper. Abwechselnd leckte und biss er in die Nippel des jungen Mannes, während seine Finger über dessen Brust wanderten. Schließlich verschloss er ihre Lippen mit einem gierigen Zungenspiel.
Überrascht schnappte Nick nach Luft. Das Bild war so grotesk und der Stich in seinem Magen wurde heftiger. Kenny ließ es widerstandslos geschehen, seine Bewegungen wirkten jedoch mechanisch.
Unerwartet ließ Bennett den jungen Mann los und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Bühne. Er öffnete seine Hose und schob sie ein wenig nach unten, dann riss er Kenny an den Haaren zu sich heran. Dieser ging in die Knie und bearbeitete mit dem Mund das erregte Glied. Stöhnend genoss der Direktor den Blowjob.
Abermals hatte Nick den Eindruck, als wüsste Kenny genau, was folgen würde. Unaufgefordert öffnete er seine Jeans, zog sie runter und stützte sich mit den Händen am Rand der Bühne ab. Bennett wartete nicht lange und nahm ihn mit einem heftigen Stoß in Besitz. Nick beobachtete das Geschehen mit weit aufgerissenen Augen und wünschte sich in diesem Augenblick weit weg. Warum hatte er bloß seine Noten vergessen?
Als Louis Bennett mit einem stöhnenden Brummen kam, glühten Nicks Wangen und er schämte sich in Grund und Boden. Er hatte den beiden nicht nur heimlich zugesehen, sondern weitaus mehr mitbekommen, als ihm lieb war. Kenny hatte sich nicht freiwillig hingegeben, so viel stand fest. Allerdings hatte er sich auch nicht dagegen gewehrt.
Nachdem beide wieder angezogen waren, griff Bennett in die Innentasche seines Jacketts und holte ein paar Geldscheine hervor, die er dem jungen Mann vor die Füße warf.
»Das sind fünfzig Dollar«, sagte er bar jedweder Emotion. Sein Blick glitt abfällig nach unten zu Kenny, der die Scheine vom Boden aufsammelte und in die Hosentasche stopfte. »Für mehr hat es heute nicht gereicht. Beim nächsten Mal will ich mehr Gefühl.«
»Wann wird das sein?«
»In zwei Tagen.«
»Und der Saal?«
Bennett legte die Stirn in Falten. »Morgen Nacht. Keine Minute länger, als beim letzten Mal.«
»Was? Nur morgen?« Kenny starrte ihn säuerlich an. »Wir brauchen ihn für mindestens zwei Nächte.«
»Dann hättest du dich eben mehr anstrengen sollen.« Louis Bennett grinste hämisch und drehte sich um. Während er auf die Tür zusteuerte, rief er Kenny über seine Schulter hinweg zu: »Das ist dann auch das letzte Mal. Sucht euch gefälligst einen anderen Ort. Bis Donnerstag will ich alle Spuren beseitigt haben. Wenn das jemand mitbekommt, wirft das nur unnötige Fragen auf. Haben wir uns verstanden?«
Der junge Mann knirschte mit den Zähnen. Nick konnte es im Lichtkegel der Lampe sehen. Als der Direktor sich mit schnellen Schritten entfernte, fischte Kenny eine Zigarettenschachtel hervor und zündete sich eine an.
»Arschloch«, flüsterte er und trat mit dem Fuß gegen die Bühne. »Beim nächsten Mal beiße ich dir höchstens deinen Schwanz ab, du Wichser.« Anschließend knipste er die Lampe aus und schlurfte ebenfalls zum Ausgang. Momente später war er verschwunden und Nick wieder allein.
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KAPITEL ZWEI
Erschrocken fuhr Nick hoch und starrte auf den Wecker. Er hatte verschlafen. Schlimmer als das war die Tatsache, dass er ausgerechnet die Vorlesung von Professor Cauldfield über Literaturwissenschaften verpasst hatte. Verärgert sank er zurück aufs Kissen. Nun konnte er auch liegen bleiben. Seine nächste Lesung war um elf Uhr und jetzt war es erst kurz vor neun.
Die halbe Nacht hatte er wach gelegen und sich von einer Seite auf die andere gewälzt. Die Szene, die er beobachtet hatte, spukte unentwegt durch seinen Kopf. Nicht nur, weil er die beiden in flagranti erwischt hatte, sondern weil er mitbekommen hatte, dass Kenny für seine Dienste bezahlt wurde. Dieser Gedanke brachte den seltsamen Stich in der Magengegend zurück. Aus dem gestrigen Gespräch konnte er schließen, dass es wohl nicht das erste Mal gewesen war. Dabei erinnerte sich Nick pausenlos an Kennys widerwillige Miene. Er hatte seinen Körper des Geldes wegen verkauft. Und für etwas, dass ihm in der kommenden Nacht sehr wichtig zu sein schien.
Insgeheim spielte Nick mit dem Gedanken sich zum Musiksaal zu schleichen. Vielleicht schaffte er es herauszufinden, was dem Typen, der gerade einmal ein Jahr älter war als er, so viel bedeutete, um sich auf solch einen verwerflichen Deal einzulassen.
Was immer es auch war, es musste Kenny sehr am Herzen liegen, damit er sich Bennett freiwillig hingab. Er tat Nick leid, obwohl er ihn nicht verstehen konnte. Für ihn gab es nichts Heiligeres, als den Tasten eines Pianos die wunderschönsten Melodien zu entlocken. Seitdem er seine Mutter das erste Mal hatte spielen hören, lebte er für die Musik. Doch niemals würde er deswegen sich selbst aufgeben oder seinen Körper anbieten.
Ein weiterer Gedanke, den er bis dato verdrängte, kehrte wieder. Kenny war unglaublich attraktiv und unwiderstehlich süß. Süßer als alle Jungs zusammen, die ihn bisher interessiert hatten oder mit denen er intim geworden war. Wobei die Worte heiß und sexy es wohl eher trafen.
Das Geheimnis, dass er schwul war, hatte Nick seit seinem vierzehnten Lebensjahr tief in sich vergraben. Während seiner Internatszeit konnte er es leicht verstecken. Hier im College durfte es ebenfalls niemand wissen. Vor allem seine Eltern durften es unter keinen Umständen erfahren. Wenn sein Vater herausfinden würde, dass er auf Jungs stand, könnte er sich warm anziehen. Christopher William Harper duldete solch eine abartige Perversität nicht. Diese Worte hatte er vor einem Jahr bei seiner Wahl zum Bürgermeister von Albany ausgesprochen und der Beifall war überwältigend gewesen. Gleichzeitig hatte er das musikalische Talent seines Sohnes in den Vordergrund gerückt und ihn als leuchtendes Beispiel für Hartnäckigkeit und Fleiß hervorgehoben. Seitdem stand er nicht nur im Fokus seines Vaters. Jedermann erwartete von ihm, dass er demnächst eine respektable Kandidatin auswählen würde, um sie später zu ehelichen.
Seufzend schloss Nick die Augen und blendete den Gedanken an seinen Vater aus. Diesen Wunsch könnte er weder ihm noch der Gemeinde erfüllen. Doch eines Tages würde er über seinen eigenen Schatten springen und Farbe bekennen müssen.
Sogar sein bester Freund Cole wollte ihn unbedingt verkuppeln, was ihm zurzeit nur recht war. Dadurch konnte er sein Gesicht in der Öffentlichkeit wahren. Allerdings gelang es Nick nicht, sich zum Schein dazu zu überwinden, eine Beziehung einzugehen. Bisher war ihm immer eine Ausrede eingefallen, warum er die scharfe Braut eben nicht heiß fand. Im Spaß frotzelte Cole deshalb oft, Nick würde Männerärsche bevorzugen. Äußerlich gab er sich in diesen Situationen gelassen und lachte über die derben Scherze seines Freundes, innerlich zerriss es ihm jedoch jedes Mal das Herz.
Fünf Semester musste er noch durchhalten. Danach würde er verreisen. Irgendwo hin, wo er seine Musik und seinen Wunsch nach Intimität ausleben könnte. Weit weg von seinem Vater und jeder Person, die sein Geheimnis nicht kennen durfte.
Überraschend wurde die Zimmertür aufgerissen. Nick zuckte zusammen. Cole stürmte mit einem ordinären Fluch auf den Lippen in den Raum und versetzte der Tür einen kräftigen Fußtritt, sodass sie lautstark ins Schloss fiel. Er warf einen Stapel Bücher auf sein Bett und stutzte. »Du bist ja noch da?«
»Sieht wohl so aus.« Nick streckte sich. »Hab verschlafen.«
»Du und verschlafen? Das ist ja ganz was Neues.« Lachend ließ sich Cole auf seine Matratze plumpsen.
Nick schlug die Bettdecke zur Seite und setzte sich auf. Aus den Augenwinkeln musterte er seinen Freund. Cole Thompson war ein verdammt scharfer Typ. Nick hatte das unverschämte Glück mit ihm ein Zimmer zu teilen. Die Studentinnen standen Schlange, und fast jede Woche hatte Cole eine neue Freundin. Sein Körper war durchtrainiert, da er oft in ein nah gelegenes Fitnessstudio ging. Er trug stets die trendigsten Klamotten und seine blonden, schulterlangen Haare band er im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammen. Der Blick aus den dunkelgrünen Augen mit den grauen Sprenkeln darin, fesselte Nick immer wieder. Seinen rechten Oberarm zierte seit Kurzem ein Tattoo: ein Feuer speiender Drache.
»Steht bei dir heute viel an?«, erkundigte sich sein Zimmergenosse.
Wenn er so fragte, wusste Nick, dass er ihn damit auf seine Art um einen Gefallen bat.
»Um was geht es diesmal?«
Zwinkernd grinste Cole ihn an. Wie sehr Nick dieses Grinsen vergötterte.
»Mein Bericht zur Beobachtung durch Spektralanalyse sollte bis morgen fertig sein«, antwortete er, stand auf und kniete sich vor ihm hin. Dann nahm er Nicks Hand in seine. Das tat er nur, um seine Bitte zu unterstreichen, doch für Nick war es eine der Berührungen, die seinen Herzschlag in ungeahnte Höhen trieb. Wie ein Edelmann im achtzehnten Jahrhundert schmachtete Cole ihn übertrieben an. »Du bist meine letzte Rettung, ehrlich«, sagte er theatralisch. »Die Menschheit steht am Abgrund und allein Cole Thompson kann sie jetzt noch vor der endgültigen Vernichtung retten. Aber dazu brauche ich diesen Bericht.«
»Du spinnst.« Nick lachte und spielte mit. Je länger es dauerte, umso intensiver konnte er die sprühende Wärme von ihm in sich aufsaugen, und daran zehren, bis der letzte Funke aufgebraucht war.
»Es ist mein voller Ernst, meine Herzallerliebste«, flötete Cole und klimperte mit den Wimpern. »Was soll die Welt bloß ohne mich tun?«
Nick schüttelte den Kopf. Das war der Moment, als sein Zimmergenosse die Hand zurückzog und sich neben ihm aufs Bett setzte. Das Spiel war vorbei. Nick seufzte innerlich.
»Ich habe heute Abend ein Date mit Nataly«, erklärte sein Freund. »Ich kann sie doch nicht versetzen, nur weil Professor Sanchez das Abgabedatum vorgezogen hat. Du siehst, dein bester Freund steckt in der Klemme.«
»Schon klar, du willst diese Nataly flachlegen.« Nick verdrehte die Augen.
»Hast du sie dir mal näher angesehen? Sie hat riesige Titten! Und erst der geile Arsch in den engen Jeans! Die ist definitiv eine Sünde wert.«
Nick grinste. »Das sagst du jedes Mal. Im nächsten Monat heißt sie Sarah oder …«
»Du brauchst wirklich dringend eine Freundin«, unterbrach ihn Cole, stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu tigern. »Vielleicht hätte ich da eine Idee. Am Samstag in zwei Wochen wollen die Jungs nach Rochester. Dort treten einige Bands aus der Umgebung auf. Da sind bestimmt eine Menge heißer Bräute. Ich fresse einen Besen, wenn da keine für dich dabei ist. Sonst stirbst du noch im hohen Alter als schrumpelige Jungfer oder bald an Samenstau.«
In Nicks Hals bildete sich ein Kloß. Er schluckte mehrmals und beobachtete seinen Collegefreund, der anfing begeistert Pläne zu schmieden und nicht weiter auf ihn achtete. Nick hörte ihm zu, fühlte sich jedoch keineswegs wohl in seiner Haut.
»Damit eines feststeht … du kommst an dem Samstag mit. Mir egal, welche Ausrede dir wieder einfällt. Sie wird nicht akzeptiert.«
»Aber … aber mein Konzert …«
»… Ist erst in ein paar Wochen. Da wird dir ein weiterer Abend Pause nicht schaden. Du klimperst schließlich jeden Tag auf dem Konzertflügel herum.«
»Mal schauen«, gab Nick klein bei, denn auf eine Diskussion hatte er keine Lust. Er würde ohnehin verlieren, also nahm er die Abkürzung und stimmte halbherzig zu.
Cole strahlte. »Ich wusste doch, auf dich ist Verlass. Und für den Bericht hast du etwas gut bei mir.«
»Das will ich hoffen. Inzwischen könnte ich in Physik ebenfalls den Abschluss machen, obwohl ich mich dafür gar nicht eingeschrieben habe.«
Verschmitzt lächelte Cole ihn an. »Dann wird es höchste Zeit. Das nächste Semester ist schneller da, als du denkst. Ein Musikwissenschaftler, der begnadet Klavier spielt und sich nebenbei sehr gut mit Astrophysik auskennt. Das soll dir erst einmal jemand nachmachen.«
»Das glaube ich kaum.« Nick ärgerte sich über sich selbst, weil er sich schon wieder hatte überreden lassen.
»Wunderbar! Ich gehe unter die Dusche.«
Cole zog sich den Pullover über den Kopf und entblößte seinen durchtrainierten Oberkörper. Nick ertappte sich bei dem Gedanken, dass er ihn am liebsten begleitet hätte.
*
Geistesabwesend lief Nick vom Hauptgebäude in Richtung Wohnheim. Seit mehr als einer Stunde überlegte er fieberhaft, wie er den anderen die Idee mit Rochester ausreden könnte. Jedes Mal musste er allen etwas vorspielen und das fiel ihm zunehmend schwerer. Sollte er es wagen und Cole ins Vertrauen ziehen? Sein Bauchgefühl riet ihm dazu. Sein bester Freund hörte ihm immer zu, wenn er dringend einen Menschen zum Reden brauchte. Er war es auch gewesen, der ihn mit Percy und den anderen zusammengebracht hatte.
Nick war erst im dritten Semester, seine Freunde bereits im fünften. Allerdings galt er auf dem College als Naturtalent und hatte somit einen Sonderstatus. Er musste sich nur einen Text oder ein Notenblatt kurz ansehen und behielt alles im Kopf. Das war auch der Grund, warum er für Cole den Bericht verfasste. Ihm fiel es leicht, sein Freund hingegen hätte mehrere Tage benötigt.
»Das wirst du trotzdem wiedergutmachen«, flüsterte Nick.
Während der Vorlesung über historische Sinfonien des achtzehnten Jahrhunderts hatte er sich einen Plan zurechtgelegt, wie sein Zimmergenosse die Schuld begleichen konnte. In knapp zehn Wochen war Weihnachten, und er wollte nicht nach Hause fahren. Cole musste lediglich seinen Vater …
»… dann werde ich den Direktor benachrichtigen müssen«, hörte Nick plötzlich eine wutschnaubende Stimme, die von der anderen Straßenseite zu ihm herüber donnerte.
Neugierig blieb er stehen und beobachtete das Geschehen. Für einen Moment traute er seinen Augen nicht. In etwa zehn Meter Entfernung stand Kenny mit einer Zigarette in der Hand vor dem Hausmeister, der ihn grimmig ansah.
»Du bist nicht fähig einen Rechen zu benutzen, gönnst dir aber eine Zigarettenpause nach der anderen. Ginge es nach mir, hätte ich dich längst rausgeworfen. Ich weiß echt nicht, warum der Direktor dir das durchgehen lässt. Du hast keinen müden Cent für deine Faulheit verdient.«
»Beruhige dich wieder, Peter«, sagte Kenny und lehnte sich lässig an einen Baumstamm. »Ich bin pünktlich zum Feierabend fertig. Oder habe ich dich jemals im Stich gelassen?«
Der Hausmeister brummte etwas Unverständliches, machte auf dem Absatz kehrt und lief zu dem kleinen Fahrzeug, in dem sich jede Menge Gartenutensilien befanden.
Der Herbst hatte im Staat New York Einzug gehalten. Auf dem Universitätsgelände in Ithaca standen sehr viele Bäume und die verloren allmählich ihre rotgoldene Farbenpracht. Bisher hatte Nick keinen Gedanken daran verschwendet, wer die Straßen und Wege säuberte, das hatte sich nun schlagartig geändert. Sein Herz schlug schneller.
Verstohlen blickte er über seine Schulter. Der Hausmeister fuhr im Wagen davon und ließ seinen Gehilfen allein zurück. Nick fischte sein Smartphone aus der Hosentasche und tippte wahllos darauf herum. In Wirklichkeit schielte er jedoch zu Kenny.
Nick konnte sich sein Verhalten einfach nicht erklären. Es war offensichtlich, dass er kein Student war. Aber warum ließ er sich auf den Direktor ein, wenn er doch einen Job hatte? Beinah schmerzhaft kam ihm die Szene von letzter Nacht in den Sinn. Der Typ war interessant, deshalb war es für ihn umso anziehender und aufregender, Kenny heimlich bei Tageslicht zu beobachten. Seine dunkelbraunen Haare waren stylish verwuschelt und verliehen ihm einen verwegenen Touch. Er trug noch immer die gleichen Klamotten, mit einem Unterschied; die Sneakers hatte er gegen Gummistiefel eingetauscht und die abgenutzte Lederjacke fehlte. Kenny zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, schnippte sie mit dem Finger davon und griff nach dem Rechen, der auf dem nassen Rasen lag. Gerade als er seine Arbeit wieder aufnehmen wollte, glitt sein Blick zu Nick.
»Was glotzt du so?«, blaffte er ihn an.
Beschämt senkte Nick den Kopf und spürte seinen beschleunigten Herzschlag. Als er sich endlich traute hinüberzusehen, hatte Kenny ihm den Rücken zugedreht.
»Oh man, was bist du nur für ein Idiot!«, fluchte Nick im Stillen.
Wie ein Dieb auf der Flucht hastete er zum Wohnheim. Was hatte er sich dabei gedacht, Kenny derart anzustarren? Eigentlich hatte er das überhaupt nicht gewollt. Die Faszination, die der junge Mann ausgestrahlt hatte, war verflogen und Nick wollte auf dem schnellsten Weg zurück in sein Zimmer, um sich dort zu verkriechen.
*
Der Lärm der Lautsprecherboxen schmerzte in Nicks Ohren. Allmählich wurde ihm durch die dröhnende Musik gepaart mit einer euphorischen Menschenmenge und ziemlich stickiger Luft übel. Bisher war der Samstagabend ein voller Erfolg gewesen. Doch nach dem Auftritt der letzten Band hatte Nick das dringende Bedürfnis allein zu sein. Sein Herz raste in der Brust und seine Gedanken wirbelten wild umher. Er musste unbedingt an die frische Luft, um sich zu beruhigen.
Vieles hatte er an dem Abend erwartet. Einiges davon war eingetroffen, aber diese Überraschung übertraf alles. Die Band Destiny Chains mit ihrem Leadsänger Kenny hatte Nicks Gefühlswelt in ein Chaos verwandelt. Selten hatte er eine Stimme gehört, die so charismatisch und mitreißend war. Fast glaubte er, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Niemals hätte er damit gerechnet, Kenny in Rochester zu sehen. Dieser Teufelskerl hatte vor dem tobenden Publikum gesungen, als täte er nichts anderes. Dabei hatte er sich mit einer attraktiven Dunkelhaarigen in hautengem Lederoutfit ein E-Gitarren-Battle geliefert, sodass Nick vergessen hatte, zu atmen. Die Band, die Lieder und vor allem Kennys Gesang hatten jeden in dem großen Saal angeheizt.
»Cole«, schrie er über die Musik und der tanzenden Menge hinweg. »Cole!«
Da sein Freund nicht reagierte, kämpfte er sich zu ihm durch und zupfte ihn am T-Shirt. »Ich brauche frische Luft. Ich warte draußen auf euch«, brüllte er ihm ins Ohr und deutete mit dem Kopf zum Ausgang.
Sein Zimmergenosse nickte. Nick bahnte sich einen Weg durch die dichte Menge. Zehn Minuten später stand er endlich im Freien und atmete tief ein. Leider war es vor dem Gebäude fast genauso voll wie drinnen, daher suchte er sich einen ruhigeren Platz. Den fand er um die nächste Ecke, an der sich auch der Hinterausgang der Bar befand.
Entspannt lehnte er sich an die kalte Mauer und genoss den leichten Wind auf seinem mit Schweiß überströmten Gesicht. Sein Herz schlug nach wie vor wie verrückt. So unfassbar es war, aber Kenny hatte ihn dort oben auf der Bühne endgültig in seinen Bann gezogen.
Mit seiner einzigartigen Stimme und einem wahnsinnig präzisen Fingerspiel, mit dem er der E-Gitarre die wunderbarsten Töne entlockt hatte, war es Kenny gelungen, Nicks Innerstes zu berühren. Eine Mischung, von der er wohl die nächsten Tage und Wochen zehren würde. Ein verträumtes Lächeln stahl sich in sein Gesicht.
Plötzlich wurde die Hintertür zur Bar aufgerissen und zwei gut gelaunte Personen stolperten kichernd hinaus. Die Tür fiel hinter den beiden Männern zu und im Schein der spärlichen Straßenbeleuchtung erkannte Nick den Leadsänger sofort. Kenny schubste seinen Begleiter gegen die Wand des gegenüberliegenden Hauses und trat damit genau in den Lichtkegel der Straßenlaterne über ihren Köpfen. Wild begann er, an den Lippen des anderen zu knabbern und zu saugen. Die Hände des Mannes schoben sich hungrig unter Kennys T-Shirt und in die Jeans. Stöhnend gaben sie sich dem Liebesspiel hin.
Nick wandte sich seufzend ab. Ein merkwürdiges Ziehen breitete sich in seiner Magengegend aus und er blickte frustriert zu Boden. Eben noch war er euphorisch und nur wenige Sekunden später fand er sich in einem tiefen schwarzen Loch wieder. Was hatte er erwartet? Dass Kenny sich ihm wie ein liebestrunkener Vollidiot an den Hals werfen würde? Er kannte ihn gar nicht, und außerdem wäre Nick sowieso niemals in seine engere Wahl gekommen. Der Mann an Kennys Seite war groß, muskulös und passte rein optisch viel besser zu ihm als er selbst. Nick fühlte sich mit seinen Designerklamotten ohnehin fehl am Platz.
Wenn Kenny auch nur ahnen würde, was er bereits über ihn wusste, wäre er so oder so bei ihm unten durch. Es musste ein Geheimnis bleiben. Dennoch änderte es nichts an der Tatsache, dass Kenny sich nur ein paar Meter von ihm entfernt mit einem Mann vergnügte, während Nick sich an seine Seite träumte. In diesem Augenblick hätte er alles getan, damit Kenny ihn bemerkte, den anderen von sich stieß und ihn an seiner Stelle in den Arm nahm und hungrig küsste.
»Cole, ich habe ihn gefunden!«, hörte er die bekannte Stimme seines Freundes rufen. Als er sich umdrehte, stand ein grinsender Percy vor ihm. Seine rötlichen Haare schimmerten in dem Licht der Straßenlaterne dunkel. »Hey, Kumpel. Beinahe hätte Cole eine Vermisstenanzeige aufgegeben.« Er wollte Nick einen Arm auf die Schulter legen, stattdessen hielt er mitten in der Bewegung inne und starrte in die Gasse. »Was ist denn da los?«
»Nichts«, antwortete Nick hastig. »Lass uns reingehen.«
»Warte mal!«
Percy lief einige Schritte in die Seitenstraße hinein. Zeitgleich kam Cole mit der restlichen Meute herbeigeeilt. Alle vier deutlich angetrunken, was auch kein Wunder war. Seit sie vor drei Stunden angekommen waren, hatten sie literweise Bier in sich hinein gekippt. Nick hatte sich an Cola gehalten, einer brauchte schließlich einen klaren Kopf und musste den Wagen fahren.
»Und? Geht’s dir besser?«, erkundigte sich Cole feixend.
»Wir wollen noch ein paar Bier trinken und dann nach Hause fahren«, lallte Milo und stützte sich auf Lance, der selbst kaum noch stehen konnte.
»Klingt gut. Aber ich fahre. Ihr habt schon zu viel getrunken. Du hast eine gehörige Alkoholfahne.«
»Ich sag’s doch, du bist ein Moralapos…«
»Hey Jungs, kommt mal her«, rief Percy.
Nick wollte Cole am Ärmel in die entgegengesetzte Richtung ziehen, doch er war bereits auf dem Weg zu Percy. Die anderen folgten ihm, so wie sie es immer taten. Nick stand da und ahnte, dass gleich etwas gewaltig schief laufen würde. Sein Bauch meldete sich zurück, und dieses Mal verspürte er ein verdammt ungutes Gefühl.
»Sieh mal einer an … zwei Schwuchteln«, hörte er Coles abfällige Stimme. Woraufhin die anderen in schallendes Gelächter ausbrachen. Es war ein dreckiges, abstoßendes Lachen. Nick ballte unbewusst die Hände. Diese Worte hatte er in seiner Highschoolzeit oft gehört. Obwohl sie ihm nie gegolten hatten, schmerzten sie jedes Mal.
»Da haben wir zwei Arschficker auf frischer Tat ertappt«, grölte Cole.
Nicks Herzschlag beschleunigte sich erneut und er bekam schwitzige Hände. Cole! Warum hatte er das gesagt?
»Was geht euch das an, ihr unterbelichteten Penner?«, sagte der Mann an Kennys Seite und trat ins Licht. Erst jetzt erkannte Nick ihn als den Keyboarder der Band.
»Pass bloß auf, was du sagst, Schwuchtel«, raunzte Cole und machte einen Schritt auf ihn zu.
Nick verstand die Welt nicht mehr. Warum ausgerechnet Cole? Er war doch sein bester Freund.
»Schau dich mal an, Abschaum.« Kenny baute sich vor seinem Begleiter auf. Seine Miene spiegelte abgrundtiefen Hass wieder. Mit zusammengekniffen Augen taxierte er Cole.
»Oh … der Süße will mir etwas sagen. Sorry, ich stelle gleich mal klar, dass ich nicht bezahlen werde, damit du mir meinen Arsch leckst.« Coles Stimme klang kalt und teuflisch. Er ließ die Gelenke seiner Finger knacken, während die anderen sich im Halbkreis um ihn aufstellten.
»Schade, ich wollte gerade fragen, ob dein Daddy dir genügend Geld mitgegeben hat. Besser wäre es allerdings, wenn du heim zu Mama gehst und dich füttern lässt. Oder bist du neidisch, weil dir keiner deinen kleinen Schwanz lutscht? Schau doch mal, der dürre Rotschopf neben dir sieht aus, als hätte er Lust Bekanntschaft mit deinem Arsch zu machen. Lass dich von ihm mal richtig durchficken.«
»Verdammte Scheiße!« Der Keyboarder drängte sich nach vorn und breitete die Arme aus, um zu zeigen, dass er nicht angreifen wollte. »Hört auf! Alle beide!«
»Was willst du denn?« Percy tat einen Schritt auf den Mann zu. »Hat dein Stricher es dir nicht richtig besorgt?«
Kaum waren die Worte ausgesprochen, stürzten sich Percy und die anderen auf den Keyboarder und brachten ihn zu Fall. Mit Fußtritten und Flüchen prügelten sie auf ihn ein. Cole hatte es auf Kenny abgesehen. Er holte mit der Faust aus und traf ihn mitten im Gesicht.
Nick glaubte sich in einem Albtraum. Wie zu einer Salzsäule erstarrt, beobachtete er fassungslos das Geschehen. Seine Kehle war trocken und er hatte das Gefühl, als würde ihn jemand würgen. Er wollte rufen, dass sie aufhören sollten, aber sein Hals war wie zugeschnürt. Er bekam keinen Ton heraus. Bei jedem Treffer, den Kenny und der Keyboarder einsteckten, zuckte er zusammen.
Plötzlich hupte hinter Nick ein Auto. Erschrocken drehte er sich um. Eine kleine Gruppe singender Passanten schlenderte an der Seitengasse vorbei und blieb neugierig stehen.
»Hey? Spinnt ihr? Ich rufe die Polizei!«, drohte einer von ihnen und zückte sein Handy. Gerade rechtzeitig. Aufgeschreckt hielten Nicks Freunde inne.
»Los, verschwinden wir!«, rief Cole. Doch ehe er seine eigenen Worte in die Tat umsetzte, trat er Kenny ein letztes Mal in den Unterleib. »Damit du es weißt … Schwuchteln gehören die Schwänze abgeschnitten.«
»Hört auf!«, schrie Nick, der seine Stimme wiedergefunden hatte.
Erneut hupte das Auto. Es stand immer noch am Eingang der Gasse und die Schweinwerfer tauchten den Schauplatz in gleißendes Licht. Nicks Angst pumpte Adrenalin durch seinen Körper. Endlich konnte er sich wieder bewegen. Er rannte auf Cole zu und riss ihn von Kenny fort. »Hör sofort auf!«
»Scheiße!« Cole keuchte und hielt im letzten Moment seine Faust zurück, sonst hätte er Nick getroffen. Sein Freund schüttelte ihn ab und starrte ihn mit funkelnden Augen an. »Was ist los? Die Hure braucht eine Abreibung.«
»Cole!«, brüllte Nick panisch, als er die näherkommende Polizeisirene wahrnahm.
Das deutliche Zeichen, dass sie bald mächtig in der Scheiße sitzen würden, rüttelte auch den Letzten wach. Percy und die anderen ließen vom Keyboarder ab und warfen einen flüchtigen Blick zu den Scheinwerfern des Autos.
»Jungs, wir müssen verschwinden!« Cole schnappte mit seiner blutigen Hand nach Nicks Arm, der sich ihm jedoch entzog.
Für einen Moment war Nick versucht, stehen zu bleiben und auf die Polizei zu warten, um ihnen zu sagen, was passiert war. Doch im selben Augenblick wurde ihm klar, dass dann sein Vater von der Schlägerei erfahren würde. Und vor allem, dass er nicht brav in der Uni war, sondern sich nachts heimlich herumtrieb. Er sprintete los und holte Cole ein, noch bevor der um die nächste Häuserecke verschwand.
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KAPITEL DREI
Vor dem Fenster durchzogen graue Wolken den morgendlichen Himmel. In Logans Appartement herrschte die gleiche düstere Stimmung, die von einem plötzlichen schmerzerfüllten Aufschrei noch bedrückender wurde.
»Verdammte Scheiße … das brennt!« Kenny stieß Logans Hand von sich und sprang mit leidender Miene verärgert vom Sofa auf. »Scheiße! Scheiße! Scheiße!«, fluchte er und begann auf und ab zu laufen. Seine aufgesprungene Unterlippe brannte wie das Höllenfeuer persönlich.
»Halt die Klappe und pflanze deinen Arsch zurück auf die Couch.« Logans Stimme klang ruhig, hatte aber einen bestimmenden Unterton. Wenn er so mit ihm sprach, war er sauer. Trotzdem kam Kenny der Aufforderung nicht nach. Er blieb stehen und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
Zähneknirschend sah er Logan in die grauen Augen und spürte die Wut erneut auflodern. Sie richtete sich nicht gegen seinen besten Freund, denn der hatte ohnehin genug einstecken müssen. Sie konzentrierte sich ausschließlich auf die fünf halbstarken Möchtegernschläger in Rochester.
»Sobald ich die Arschlöcher in die Finger kriege, können sie ihre künftige Familienplanung in den Wind schießen«, brauste er auf. »Ich weiß genau, wo ich den Pisser Cole und seine Wichsfreunde finde.«
»Du kannst sie alle der Reihe nach kastrieren, aber vorher kommst du her und lässt dich von mir verarzten. Wird’s bald, sonst erlebst du gleich noch eine Tracht Prügel. Wenn ich dann mit dir fertig bin, kannst du mindestens eine Woche nicht mehr auf deinem Arsch sitzen.« Logan blickte ihn ernst an.
Kenny kam knurrend dem Befehl nach. Er bewunderte seinen Bandkollegen insgeheim. Die Arschlöcher hatten seinem besten Freund besonders arg zugesetzt, aber im Gegensatz zu ihm, ließ er sich seine Schmerzen nicht anmerken. Für Kenny war das ein Ding der Unmöglichkeit. Ebenso wenig konnte er seine Gefühle im Zaum halten. Überhaupt lebte er nach dem Motto: Zuerst handeln und später nachdenken. Eine Eigenschaft, die ihm schon oft Ärger eingehandelt hatte. Letzte Nacht war er jedoch unschuldig gewesen.
Kenny musterte Logan eingehend. Sein Gesicht und auch die Handknöchel waren geschwollen. Veilchen zierten seine Augen. Da er das ohnehin zerrissene T-Shirt ausgezogen hatte, konnte Kenny die unzähligen blauen Flecken auf der Brust und den Rippen erkennen. Um Nase und Kinn klebten immer noch getrocknete Blutspritzer, die von den kräftigen Fausthieben der anderen stammten. Obwohl sein sportlicher Oberkörper völlig ramponiert war, hatte Logan nichts von seiner sexy Ausstrahlung eingebüßt. Der Dreitagebart und die dunkelblonden, schulterlangen Haare gehörten ebenso zu seinem Auftreten als Rockmusiker, wie das filigrane Tattoo mit dem Wort Music, das sein Schlüsselbein zierte, wobei das S eine Note darstellte. Noch besser fand Kenny die Tätowierung am rechten Arm. Vom Handgelenk hinauf bis zum Oberarm hatte Logan sich die Tasten eines Keyboards stechen lassen, dessen krönender Abschluss eine große Musiknote auf der Handinnenfläche bildete.
»Hast du genug gestarrt?«, beschwerte sich der Keyboarder und musterte seinen Bandkollegen mit zusammengekniffenen Augen.
Kenny grinste schief und setzte sich endlich hin. »Sehe ich genauso scheiße aus wie du?«
Logans Gesichtszüge entspannten sich und er lachte. »Danke für das Kompliment.«
»Jederzeit.«
»Kann ich dich jetzt verarzten?«
Seufzend gab Kenny den Widerstand auf und sein Freund startete einen neuen Versuch, seine Verletzungen zu behandeln. Behutsam strich er mit einem jodgetränkten Wattebausch über die aufgeplatzte Unterlippe. Sobald der Schmerz kam, hielt Kenny den Atem an und holte erst wieder Luft, als das Brennen ansatzweise nachließ.
»Siehst du … alles halb so schlimm.«
»Das sagst du …«
Kenny sah schweigend zu, wie Logan die Jodflasche auf dem Boden abstellte und es sich auf der Couch bequem machte. Er rückte näher an ihn heran, legte sich auf die Seite und bettete den Kopf in dessen Schoß. Logans Finger kraulten ihm sanft durch die Haare. Keiner der beiden sagte ein Wort.
Erschöpft schloss Kenny die Augen und genoss den Moment der Ruhe und des Friedens. Schon seit Monaten hatten sie sich nicht mehr so zärtlich angenähert. Ihre Verbindung bestand rein körperlich und diente lediglich der sexuellen Befriedigung. Gefühle spielten dabei meist keine Rolle, abgesehen davon, dass sie beste Freunde, fast wie Brüder waren. Logan lebte mit seiner Freundin April in einer offenen Beziehung. Sie sahen sich nur alle zwei Wochen, was wiederum Kenny mehr als einmal zugutekam. Im Gegensatz zu Logan interessierten ihn nur Männer, außerdem war er fest entschlossen, Single zu bleiben. Er glaubte nicht an einen Mister Right.
Aber es war nicht nur der Sex, der sie miteinander verband, sondern auch die Liebe zur Musik und ihrer Band Destiny Chains. Logan hatte sie vor sieben Jahren mit seinem Kumpel Drake gegründet. Als Leadsänger und Komponist genoss Kenny einen Sonderstatus, der von allen Bandmitgliedern akzeptiert und respektiert wurde. Vor allem, weil er durch sein Aussehen die weiblichen Fans anzog, während Logans jüngere Schwester Megan in ihren figurbetonten Outfits den Männern den Kopf verdrehte. Sie war ein Genie an der E-Gitarre, wusste sich zu bewegen und ließ dabei ihre sexy Kurven für sich sprechen. Die Typen lagen ihr reihenweise zu Füßen.
Kenny und Megan waren mit ihren zweiundzwanzig Jahren die Küken der Band. Logan war sechs Jahre älter und übernahm somit eine Art Vaterfigur. Er war der Vernünftigste der Truppe, der immer versuchte die Ruhe zu bewahren.
Während Kenny so über sein Leben nachdachte, driftete er langsam in einen erholsamen Schlaf. Die nächtlichen Ereignisse hatten ihn auf der Fahrt nach Hause kein Auge zumachen lassen. Auch Logan entschied sich zu Gunsten eines Nickerchens und versuchte, eine bequeme Schlafposition zu finden. Erst als am Nachmittag die Sonne endlich einen Weg durch die Wolken fand und Kenny an der Nase kitzelte öffnete dieser wieder die Lider.
Seufzend setzte sich Kenny auf und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. »Verdammte Scheiße, ich muss los.«
»Jetzt schon?« Logan sah verschlafen auf die Uhr an der Wand. »Es ist gerade mal drei. Ich dachte, du fängst erst um sechs an.«
Gähnend streckte Kenny seine Glieder und erhob sich. Logans Hand griff nach ihm und wollte ihn zurück auf seinen Schoß ziehen.
»Sorry … jetzt nicht. Mit tut jeder Knochen weh und ich muss nachher fit sein.« Mit einer flinken Bewegung entzog sich Kenny seinem besten Freund.
Logan stöhnte. »Das sind ja ganz neue Töne von dir.«
»Öfter mal was Neues.« Grinsend fischte Kenny nach seinen Schuhen.
»Ehrlich gesagt mag ich Altbewährtes lieber.« Logan zwinkerte und versuchte erneut ihn zu sich herunterzuziehen. »Nur ein kurzer Ritt.«
»Nein.« Kennys Tonfall ließ keinen Raum für Eventualitäten. Er riss sich los und trat einen Schritt zurück. »Warte auf April. Sie kommt doch heute Abend, oder nicht? Dann könnt ihr zwei euch das Hirn rausvögeln. Aber vorher gib mir noch meine Kohle.«
Logan griff in die Hosentasche seiner Jeans und holte ein Bündel Geldscheine heraus. Er zählte sie ab und drückte seinem Bandkollegen vier Scheine in die Hand. »Achtzig Dollar.«
»Willst du mich veräppeln?« Kenny schnappte sich das Geld, als hätte er Angst auch dieses nicht zu bekommen und ließ es in der eigenen Tasche verschwinden.
Logan zuckte mit den Schultern. »Mehr ist nicht rausgesprungen. Die Summe geht wie immer durch fünf. Du hast sogar zwanzig mehr als die anderen.«
»Der Typ hat dich verarscht. Der Laden war brechend voll. Da hätte viel mehr rausspringen müssen.« Kenny spürte, wie seine Wut erneut aufkeimte. Dieses Mal richtete sie sich gegen den Besitzer der Bar.
»Ich weiß. Das Meiste ging für den Sprit drauf.« Logan schüttelte den Kopf. »Und der Typ hat die Sondereinlage der Bullen abgerechnet.«
»Das war doch nicht unsere Schuld. Die dämlichen Pisser haben angefangen.«
»Auch das weiß ich. Komm schon, reg dich ab und bleib einfach noch etwas.«
»Vergiss es!« Kenny wandte sich um und lief zielstrebig auf die Haustür von Logans Loft zu. Im Vorbeigehen hob er seine Lederjacke auf, die er achtlos im Flur auf den Fußboden hatte fallen lassen.
»Spielverderber!«, rief sein Freund ihm nach. »Sonst bist du nicht so prüde.«
Den Nachruf ließ Kenny unbeantwortet und warf die Tür hinter sich zu. Zornig stürmte er die Treppen hinunter, in den Hof und auf die Straße. Dort zündete er sich eine Zigarette an und verlangsamte seine Schritte. Er benötigte unbedingt Zeit für sich. Normalerweise hasste er es allein zu sein, und noch mehr hasste er es, mit seinen Gedanken allein zu sein. Doch heute begrüßte er die Einsamkeit.
Zurzeit nagte noch ein anderes Problem an seinen Nerven. Nicht einmal Logan wusste davon. Sein Vermieter hatte angekündigt, ab nächsten Monat die Miete zu erhöhen.
Frustriert marschierte Kenny die drei Blocks zu seinem Appartement und dachte über eine mögliche Lösung nach. Obwohl er die Fünfunddreißigquadratmeterwohnung gern als Rumpelkammer bezeichnete, war sie die einzige Unterkunft im Umkreis von zwanzig Meilen, die er sich leisten konnte. Siebzig Dollar die Woche kostete das Zimmer, mit fließend heißem Wasser, einem winzigen Bad und einer Kochnische. Er musste dafür nur den Lärm des in der Nähe liegenden Bahnhofs erdulden und den Geruch des Fischmarkts auf der anderen Straßenseite.
Nach der dritten Zigarette und einem Abstecher zu seinem Lieblingschinesen um die Ecke, stieg er die Treppen in die fünfte Etage nach oben und betrat sein Reich. Seufzend sah er sich das Chaos an und warf die Lederjacke auf die Couch. Eigentlich hätte er dringend aufräumen müssen, danach stand ihm allerdings überhaupt nicht der Sinn. Er musste zusehen, schleunigst einen dritten Job zu finden, der sich mit den beiden anderen Arbeitsstellen vereinbaren ließ. Vormittags half er dem Hausmeister auf dem Campus und abends jobbte er im Fitnesscenter. Ihm standen somit lediglich nachmittags ein paar Stunden zur Verfügung.
»Alles Mist!«, stieß er lauthals aus und entledigte sich seines T-Shirts und der Jeans. Beides gesellte sich zu seiner Jacke. Schnurstracks hielt er auf das Badezimmer zu und musterte sich im Spiegel. »Logan hat nicht übertrieben«, kommentierte er sein Konterfei grimmig.
Ein Veilchen schimmerte unter dem rechten Auge. Die Unterlippe war geschwollen und brannte noch immer vom Jod. Jeder Muskel in seinem Gesicht pochte dumpf, ebenso der Rest seines Körpers. Coles Stiefel hatten deutliche Spuren hinterlassen. Wie sehr er den Wichser hasste. Das würde er ihm büßen … früher oder später.
Kenny zog seine Shorts aus und stieg unter die Dusche. Gerade als er das Wasser aufdrehen wollte, klingelte das Telefon. Das war vermutlich Logan. Angepisst verließ Kenny das Bad und ging zur Couch hinüber, neben der am Boden das Telefon stand.
»Ich sagte, dass ich keinen Bock habe«, maulte er. »Also spar dir deine Überredungsversuche!«
»Das ist aber schade«, antwortete der Anrufer amüsiert. »Doch heute Abend ist es ohnehin schlecht. Meine Freundin kommt.«
Kenny erschrak und ließ sich aufs Sofa plumpsen »Verdammter Idiot«, fluchte er. »Bennett! Was willst du?«
»Reg dich ab. Darf ich dich nicht einmal anrufen, wenn mir danach ist?«
»Nein!« Kenny schluckte und spürte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Wenn Bennett sich bei ihm meldete, ging es meistens nur um das Eine.
»Ich hörte zufällig von deinen Problemen«, sprach der Direktor weiter, als hätte sein Gesprächspartner keinen Einwand erhoben.
»Ja und …?« Kenny spielte mit dem Gedanken, einfach den Hörer aufzulegen. Aber dann würde das Arschloch erneut anrufen.
»Ich sag es mal so …, ich könnte dir helfen«, säuselte Bennett.
»Ach ja? Was hast du denn so gehört?« Trotz seines Ärgers und der Abscheu, die dieser Mann bei ihm hervorrief, war Kenny neugierig.
»Deine Band hatte einen unliebsamen Zwischenfall mit der Polizei«, antwortete Bennett gelassen. Wie immer genoss er es, am längeren Hebel zu sitzen. »Euer Honorar fiel deswegen nicht so großzügig aus, wie erhofft. Habe ich recht?«
Kenny schwieg.
»Ich weiß ebenfalls, dass dein Vermieter die Miete erhöhen will«, fuhr er fort. »Du bist demnach mal wieder in Geldnot. Ich könnte dir ein wenig unter die Arme greifen. Was hältst du von dieser Idee?«
Im ersten Moment verschlug es Kenny die Sprache. Er fragte sich, woher der Mistkerl das alles wusste, aber eigentlich war es egal. Er konnte es nicht mehr ändern und Bennetts Vorschlag würde ihm keinesfalls gefallen, dessen war er sich sicher.
»Was schwebt dir vor?«, fragte er barsch und hörte ein hämisches Lachen.
»Ich wusste, dass du Interesse hast.«
»Raus mit der Sprache! Was willst du?«
»Schon gut … schon gut«, bedeutete Bennett mit einem lauten Räuspern. »Ich dachte, ich könnte dir ein Appartement kaufen, für dich ganz allein. Größer und näher am Campus. Und ich wäre bereit, euch das Geld zu ersetzen, das ihr in Rochester verloren habt. Vielleicht auch noch ein wenig Taschengeld für dich. Klingt das verlockend?«
Überraschend fand Kenny das Angebot nicht. Doch Bennett tat nie etwas, ohne eine Gegenleistung zu fordern. Wie die aussah, konnte er sich bildlich ausmalen. Er würde ihm vermutlich Tag und Nacht zur Verfügung stehen müssen. Allerdings fand er es ziemlich erschreckend, dass ausgerechnet ein Mann in seiner Position sich so weit herabließ und ihm solch ein Angebot unterbreitete. Bennett war nicht der Typ, der sein Geld einfach zum Fenster hinauswarf. Ergo musste mehr dahinterstecken.
»Was genau willst du von mir?«
»So ist es brav«, säuselte es am anderen Ende der Leitung. Kenny verzog angewidert das Gesicht. Er konnte das breite, siegessichere Grinsen deutlich vor sich sehen. Am liebsten hätte er ihm in die Weichteile getreten, sodass der alte Sack nie wieder eine Erektion bekommen würde. Vielleicht tat er es tatsächlich … bei ihrem nächsten Treffen.
»Ich wünsche mir von dir Folgendes: …«, fuhr Louis Bennett fort und verlieh seinen Worten mit genauer Betonung mehr Nachdruck. »Du wirst mir künftig zwei Nächte in der Woche zur Verfügung stehen. Außerdem will ich nicht nur einen schnellen Fick, wie bisher. Du wirst mir gegenüber Zuneigung zeigen. Aber ich warne dich jetzt schon, keine halben Sachen … sei überzeugend. Sollte ich das Gefühl haben, dass du mir lediglich etwas vorspielst, wirst du das büßen. Ach ja … und richte deinem Freund Logan aus, dass ich euch für Amandas Geburtstag im Mai buche.«
Kenny schloss die Augen und schluckte. Ihm war hundeelend und er konnte kaum noch atmen. Es fühlte sich an, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Dieser ungeheuerliche Deal verschlug ihm die Sprache. Leider wusste er aber eins nur zu gut: Würde er sich nicht auf den Vorschlag einlassen, hätte Bennett bereits die nächste perfide Idee in der Hinterhand. Er würde ihn so oder so an den Eiern packen.
»Ich gebe dir einen Tag Zeit, um es dir zu überlegen«, sagte Louis gönnerhaft. »Morgen Abend erwarte ich deine Antwort.«
»Ich kann dich eh nicht daran hindern«, presste Kenny zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Als er auflegte, hörte er Bennets dreckiges Lachen.
Seine Gedanken wirbelten umher. Ließ er sich auf das Angebot ein, wäre er seine Geldprobleme mit einem Schlag los. Es wäre ihm sogar möglich etwas Kohle zur Seite zu legen. Andererseits gab er damit seine Unabhängigkeit auf, für die er so hart gekämpft hatte. Er wäre auf Louis Bennetts Gunst angewiesen und würde alles, was er sich seit seiner Volljährigkeit aufgebaut hatte, in die Hände des notgeilen Hurenbocks legen. Dieser Gedanke schmerzte am meisten. Bisher hatte er nur aus seinem Körper Kapital geschlagen. Nahm er das Angebot an, würde er auch seine Seele verkaufen. Doch hatte er überhaupt eine Wahl?
»Verfluchte Scheiße!«, schrie er frustriert auf und schlug mit der Faust auf den kleinen Holztisch vor ihm. »Warum? Warum zum Teufel muss er mir das antun?«
Wütend sprang er vom Sofa auf und lief wie ein wildes Tier im Appartement auf und ab. Seine Schmerzen waren für den Moment vergessen. Dass er immer noch nackt war, fiel ihm nicht einmal auf.
Obwohl es Bennett nicht direkt angesprochen hatte – das musste er auch gar nicht – wusste Kenny, dass sich das Arschloch im Klaren war, ihm damit einen verlockenden Köder hingeworfen zu haben. Das Geld, das er künftig bekommen würde, konnte er zum Teil in die Band investieren und Logan und die Jungs damit unterstützen. Regional waren sie bereits bekannt, aber ihnen schwebte ein höheres Ziel vor. Auftritte nicht nur innerhalb des Staates New York, sie wollten über die Staatsgrenze hinaus. Vielleicht könnten sie sich sogar einen neuen Transporter anschaffen, das ramponierte Schlagzeug ersetzen und sich einiges mehr leisten. Die Band war Kennys Leben, seine Leidenschaft, dafür lebte er. Die Musik war seine Passion.
*
Eine Stunde später war Kenny bereits wieder unterwegs. Nach einer kurzen Dusche hatte er es nicht mehr in seinen vier Wänden ausgehalten. Er brauchte dringend frische Luft, um einen klaren Kopf zu bekommen. Bennetts Vorschlag war verführerisch und zugleich die mieseste Idee, die sich der Hurenbock bislang ausgedacht hatte. Kenny wollte nicht an ihn oder sein Angebot denken und versuchte, seinen Hass erneut auf Cole und seine Freunde zu lenken.
»Hey Kenny … schon da?«, wunderte sich sein Arbeitskollege Norman, als er dreißig Minuten vor Schichtbeginn an ihm vorbeistürmte. Norman war ein schlaksiger, junger Afroamerikaner, der stets einen kessen Spruch auf den Lippen hatte. Er schob seine Schicht jeden Abend an der Anmeldung des Fitnessstudios. Sie kannten sich nur von der Arbeit, doch er war sympathisch und das allein zählte.
Kenny blieb stehen, drehte sich um und grinste. »Ich muss etwas Dringendes erledigen.«
»Scheiße, was ist denn mit dir passiert?«
»Frag nicht. Weißt du, ob Cole Thompson schon da ist?«
Norman überlegte einen Moment. »Du meinst den blonden aufgeblasenen Macho? Der, der den ganzen Miezen nach dem Training immer Drinks spendiert?«
»Genau der. Ist er da?« Kenny wurde nervös.
»Du hast Glück. Er ist vor ein paar Minuten nach hinten gegangen. Bin ja nicht neugierig, aber was willst du denn von dem?«
»Nicht so wichtig.« Mit einem Nicken verabschiedete sich Kenny und lief geradewegs zur Männerumkleide.
Bevor er eintrat, blickte er sich um. Schaulustige konnte er bei dem, was er vorhatte, nicht gebrauchen. Als er die Tür einen Spaltbreit öffnete und hineinspähte, musste er feststellen, dass Cole nicht allein war. Angespannt wartete er ab, bis auch der Letzte den Raum verlassen hatte. Dann nutzte er die Gelegenheit, endlich seiner Wut ein Ventil zu verschaffen. Er trat ein und schlug die Tür lauter zu als nötig. Mit verschränkten Armen und zusammengebissenen Zähnen blieb er vor Cole stehen, der ihm den nackten Rücken präsentierte.
»Ich habe mich schon gefragt, wann du auftauchst«, sagte der Blonde gleichgültig, ohne sich umzudrehen.
»War das eigentlich notwendig? Fühlst du dich jetzt besser?«, platzte Kenny heraus.
»Das sollte ich wohl dich fragen.« Cole wandte sich um und taxierte ihn mit einem breiten Grinsen.
Zu Kennys Genugtuung befand sich unter dem linken Auge seines Gegenübers ein fettes Veilchen. Zufrieden verzog er die Mundwinkel ebenfalls zu einem schadenfrohen Lächeln.
»Dass dich das freut, war ja klar«. Cole presste die Lippen fest aufeinander.
»Wenigstens hat Logan gut getroffen. Fühlst du dich ohne deine Bodyguards auch so stark?«
Kenny musste sich zusammenreißen. Die Erinnerung an die gestrige Prügelei war wieder präsent. Es war fast, als würden Coles Schläge von Neuem auf ihn einprasseln. Instinktiv ballte er die Hände zusammen.
»Quatsch nicht so einen Scheiß und lass mich gefälligst in Ruhe. Du und deine Fickerfreunde gehen mir gewaltig auf den Sack.«
»Oh … ein Satz aus deinem Mund, der sogar Sinn ergibt. Wie lange hast du den vorm Spiegel eingeübt?« fragte Kenny bissig.
Einen Augenblick später wurde er grob an den Schultern gepackt und mit dem Rücken gegen eine der geschlossenen Spindtüren gestoßen. Hasserfüllt starrten sie einander in die Augen.
»Du fühlst dich also stark«, stellte Kenny lapidar fest. Er ließ sich nicht beeindrucken.
»Ich kann dich gern spüren lassen wie stark, indem ich dir die Nase breche.« Unbeherrscht schlug Cole mit der Handfläche gegen den Spind, neben Kennys Kopf.
Kenny konnte nicht anders und lachte. »Du drohst mir? Du versuchst tatsächlich, mir zu drohen?« Er verspürte keine Angst. Sein Gegenüber war zu feige, um auf ihn loszugehen, wenn seine nichtsnutzigen Kumpels nicht in der Nähe waren. Er kannte ihn gut. Vermutlich besser, als Cole sich selbst. Mit einem barschen Schlag gegen Coles Brust löste er sich aus seiner Zwangslage, trat aber vorsichtshalber zwei Schritte zur Seite.
»An deiner Stelle würde ich mir gut überlegen, was du tust. Vergiss nicht, ich hab mehr Einfluss, als du jemals haben wirst. Also lass deine prolligen Sprüche stecken. Ich verspreche dir, beim nächsten Mal sieht es für dich und deine trottligen Freunde anders aus. Vielleicht könnte mir dann nämlich aus Versehen etwas herausrutschen, was nicht für deren Ohren bestimmt ist.«
Cole schluckte merklich und stierte ihn an. Sein Blick verriet seine plötzliche Unsicherheit. Sofort hatte er sich jedoch wieder im Griff. »Mach dich nicht lächerlich. Ich halte wenigstens nicht meinen Arsch hin. Du verkaufst dich stattdessen für ein paar Gigs und fühlst dich dabei mächtig wichtig. Wie dumm muss man sein? Sieh dich doch an. Du läufst rum wie der letzte Penner und schuftest für ein paar miese Kröten. Ich dagegen studiere. Wer von uns hat wohl mehr auf dem Kasten?«
»Auf Kosten von Daddy kann jeder studieren«, spie Kenny ihm entgegen, denn Cole hatte seinen wunden Punkt getroffen. »Also? Wer kriecht hier wem in den Arsch? Halt bloß deine Klappe, wenn du weiterhin willst, dass ich dich decke. Schalt mal deine drei Gehirnzellen ein, bevor du dein scheinheiliges Maul aufmachst. Falls nicht, erzähle ich ihm gern, was wirklich passiert ist.«
»Das. Wirst. Du. Nicht. Tun.« Cole betonte jedes Wort und es war ihm anzusehen, dass er um seine Fassung rang. »Nur ein Wort … ich schwöre dir …«
Eine weitere Drohung blieb unausgesprochen, da sich die Tür zur Umkleidekabine öffnete und drei schwatzende junge Männer hereinkamen.
»Glück gehabt«, flüsterte Cole.
»Wenn du meinst.« Kenny lachte und wandte sich zufrieden ab. Obwohl er dem Saftarsch gern noch einen Kinnhaken verpasst hätte, verzichtete er darauf. Die nächste Gelegenheit würde kommen. Bald.
© Madison Clark
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